Jörg Spletts Aphorismen


Jörg Spletts schriftliche und gesprochene Philosophie unterscheiden sich signifikant. In der Schriftform formuliert Splett sehr dicht und komplex. Im mündlichen Vortrag zeichnet er sich durch prägnante Verständlichkeit aus. In den Jahrzehnten seiner Lehre haben sich Aphorismen entwickelt, die komplexe Zusammenhänge intuitiv treffend, einprägsam und oft witzig auf den Punkt bringen. Die folgenden Aphorismen wurden von Franziskus Heereman aus Vorlesungsmitschriften und Aufzeichnungen zusammengestellt. Splett-Schüler, die Kandidaten zur Erweiterung der Sammlung beitragen können, sind herzlich gebeten, uns zu kontaktieren

Erkenntnistheorie


Objektivismus? Ein Objekt kann es ohne ein Subjekt gar nicht geben. Denn Objekt bedeutet: entgegenstehend. Es braucht also jemanden, dem es entgegensteht.


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Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur. Was immer erfasst wird, wird im Modus des Erfassenden erfasst. Wenn mir einer aufs Auge schlägt, sehe ich Sterne. Wenn aufs Ohr, brummts.


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Es hat wenig Sinn zu fragen: „Wie sieht jemand aus, wenn ich ihn nicht angucke?“ Ich kann einen Menschen nur so angucken, dass er zugleich mich anguckt, und dann sieht er natürlich anders aus, als wenn er wen anders anguckt. Deswegen hat niemals Herr Müller einfach nur mit Herrn Meier zu tun, sondern immer Herrn Meiers Müller mit Herrn Müllers Meier. Es ist wirklich Müllers Meier! Natürlich nur Müllers Meier. Aber wirklich Müllers Meier. Deswegen schreibt man unter den Brief drunter: „Ihr Splett“. Nicht der ganze, sondern nur „Ihr“.

Meinetwegen: „ganz der Ihre“!


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Ist die Rose an sich rot oder nur für uns? Sie ist so, dass sie für uns rot ist. Und das sagt nicht bloß etwas über uns, sondern über die Rose.


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Erkenntnis ist immer das gemeinsame Produkt von Subjekt und Objekt. Man dachte, in der Naturwissenschaft das Subjekt herauskürzen zu können. Deshalb waren die Ergebnisse der Quantenphysik ein Schock. Hätte man im Auge behalten, dass Subjekte vor allem andere Subjekte erkennen, wäre der Schock geringer ausgefallen. Natürlich verändert das Angeblicktwerden ein anderes Subjekt: Es nimmt den Finger aus der Nase.


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„Man sieht nur mit dem Herzen gut“ (St-Exupéry) ist ergänzungsbedürftig:

Man sieht nur mit einem guten Herzen gut.

Person


Meine Formel für das Ich: Du – ich – Du.

Ich kann Ich sagen, weil jemand Du zu mir gesagt hat. Und ich werde ein Ich, um Du sagen zu können.


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Wir können uns nicht selbst in die Augen sehen, wohl aber dem Blick eines anderen begegnen. Deshalb macht Selbstsuche blind.


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Wir haben, was wir haben, um es geben zu können, und wir haben nicht, was wir nicht haben, um es geschenkt zu bekommen.


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Es geht nicht um Erlösung vom Personsein, sondern Erlösung des Personseins.

Der Mensch


Wenn es uns nicht gäbe, würden die Philosophen beweisen, dass es uns nicht geben kann.

(Nur gäbs die dann auch nicht.)

Identität und Bezug


Der Mensch ist das Wesen, dem sein Leben nichts mehr wert ist, wenn ihm nichts mehr wert ist als sein Leben.


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Wir sind nie so da, wie wenn wir „ganz weg“ sind.


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Halb sind wir in den Kränkungen von gestern und halb in den Sorgen von morgen. Der Rest bleibt dann für die Gegenwart.


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Wer zur Hälfte in seiner eigenen Musikalität badet, kann nur noch zur Hälfte in Mozart baden.


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Ganzheit? Ganz Auge und Ohr sein.

Gewissen und Freiheit


Wer nicht sollen will, muss müssen.


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Man soll sich ein Gewissen daraus machen, eines zu haben.


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Wir sind das erste Objekt unserer Taten. Wenn ich versuche, jemanden zu betrügen, ist es unsicher, ob der Andere zum Betrogenen wird. Was aber sicher gelingt, ist, dass ich ein Stück mehr zum Betrüger werde.

Sterben


Man kann nur aus einem Sinn leben, wenn man für ihn lebt. Und man kann nur im Ernst für ihn leben, wenn man bereit ist, für ihn zu sterben.


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Wir können uns gar nicht ganz geben. Denn solange wir uns geben, haben wir die Hand noch unterm Tablett. Wir müssen uns genommen werden.

Kunst


„…da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst Dein Leben ändern.“ (Rilke, Archaïscher Torso Apollos). 

Woher dieser Anspruch? Das Kunstwerk sagt: Ich bin vollkommen und was bist Du?

Glaube


Glaube ist etwas anderes als eine Hypothese. Ich glaube, dass meine Frau mich liebt. Würde ich Ihr bei der eisernen Hochzeit sagen, „Liebling, die Hypothese, dass Du mich liebst, verdichtet sich langsam zur Gewissheit“, würde ich ganz schön etwas zu hören bekommen. Und das zurecht.


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Auch im Himmel hört der Glaube nicht auf. Denn da ist es so schön, das ist kaum zu glauben.

Misstrauen


Anstatt mit der Schlange zu reden, hätten Adam und Eva Gott fragen sollen, warum sie nicht von diesen Früchten essen dürfen. Dann hätte Gott ihnen gesagt, warum. „Die gibt’s heut Abend zum Kompott.“


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Wer einmal lügt, der glaubt nicht mehr.

Verzweckung des Anderen zur Selbstverwirklichung


Bei Leuten wie Hesse und Rilke fungiert die Geliebte als Mittel zur Selbstverwirklichung. Entsprechend zieht man dann weiter, wenn man seine Lektion gelernt hat. Zur Belohnung kommt die zurückbleibende Dame dann im nächsten Gedicht vor.


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Bei Hegel sind wir Menschen die Sektperlen in dem Glas, mit dem der absolute Geist sich selbst zum Geburtstag zuprostet.

Ideologie


Für keinen Standpunkt gibt es hundert Prozent Gründe. Dies zu behaupten ist das Wesen der Ideologie. Die anderen sind dann dumm oder böse, oder am besten beides.

Allzuständigkeit der Naturwissenschaft?


Natürlich ist die Physik nicht für Sinnfragen zuständig. Kein Mathematiker würde akzeptieren, dass ein Physiker durch eine umfassende Untersuchung der Verteilung der Kreidepartikel auf der Tafel über die Korrektheit einer Rechnung entscheidet. Und dem würde keiner Immunisierung vorwerfen.

Dankbarkeit und Glück


Glücklich macht uns nur, was über das hinausgeht, was uns zusteht. Deshalb muss man vorsichtig sein, alles, was wir brauchen, zu verrechtlichen. Sein Recht zu bekommen, macht nicht glücklich – allenfalls ingrimmig zufrieden.


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Wer glücklich ist, ist dankbar. Und wer dankbar ist, ist glücklich.


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Undankbarkeit ist immer Gedankenlosigkeit.


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Dankbarkeit hilft gegen fast alles.


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Hoffnung ist die Zukunftsgestalt von Dankbarkeit.


Erkenntnis und Annahme meiner selbst


Wenn man einmal anfängt zu lieben, merkt man erst, wie lieblos man eigentlich ist. Deshalb lässt man es besser; dann kommt man sich ganz normal vor.


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Eigentlich müssten wir unseren Todfeind heiraten. Der hätte uns wenigstens verdient.


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Wer stand nicht schon vor dem Spiegel, und hat sich gedacht: Wenn Gott mich wirklich lieben würde, hätte er mir dann nicht mehr geschenkt als ausgerechnet mich?


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Es gibt im Endlichen kein Maximum. Deshalb könnte ich prinzipiell immer schlauer, schöner oder stärker sein – oder netter (dann hätte auch meine Frau was davon). Die Herausforderung ist: In der Endlichkeit der Gabe die Unendlichkeit der Liebe des Gebers zu erkennen.

Unbegreiflichkeit und Geheimnis


Warum wird Gott immer als unbegreiflich beschrieben? Natürlich ist er das – aber keiner würde von einer „unaustrinkbaren Dusche“ oder einem „ungenießbaren Diamanten“ sprechen.


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Es geht nicht darum, Gott zu begreifen. Natürlich ist es unmöglich, das Meer in ein Loch zu schaufeln. Aber es ist auch unsinnig. Denn das Meer lernt man nur kennen, indem man sich hineinwirft und schwimmt.


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Das Geheimnis ist unbegreiflich, weil es unsere Heimat ist. Eine Heimat, die wir begreifen könnten, wäre kleiner als wir, und könnte dann nicht Heimat sein.

Das Böse


Das Böse ist nicht zu verstehen, aber wir alle verstehen uns darauf.


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„Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets, das Böse, das man lässt.“ (Wilhelm Busch) Das ist zwar Schopenhauer in gereimt, bleibt aber so ungereimt wie bei Schopenhauer. Es ist nicht wahr, dass das Gute das Weglassen des Bösen ist, sondern umgekehrt: Das Böse ist das Weglassen des Guten.


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Es ist nicht wahr, dass das Gute das Übel als Kontrast braucht. Wer zwei Stunden am Schleifstein steht, ist hinterher nicht empfänglicher für eine Mozartsymphonie. Und um eine Mahlzeit genießen zu können, brauche ich nicht Hunger, sondern Appetit. – Der Hunger treibts rein.


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Das Böse ist ein Parasit am Guten. Der Apfel braucht nicht die Fäule, aber die Fäule braucht den Apfel. Bei absoluter Fäule ist nicht bloß der Apfel weg, sondern auch die Fäule.


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Wenn jemand Nein sagt und man ihn fragt, ob er wirklich Nein sagen will, muss er „Ja“ sagen.

Das erste Hauptgebot


Gott will, dass wir ihn lieben, weil wir sonst seine Liebe nicht erkennen können. Man muss schon Gott sein, um dem anderen zu sagen: du sollst mich lieben. Wir sagen: „Wenn ers’s nicht freiwillig macht, soll er mir den Buckel runterrutschen. Ich hab auch meinen Stolz.“ Gott hat keinen.

Erlösung


Ich ändere mich. Aber ich ändere mich. Erlösung kann nicht Neuschöpfung im strengen Sinne sein. Ich würde es Splett 2 ja gönnen, aber was hätte Splett 1 davon?

Kultur und Natur


Der Mensch ist das Wesen, zu dessen Natur es gehört, Kultur zu haben. Wenn er keine Kultur hat, ist er nicht natürlich, sondern kulturlos.

Tierrechte


Wir haben Pflichten gegenüber den Tieren, daraus folgen aber keine Tierrechte. Wenn die Tierrechte kommen, mache ich eine Kanzlei auf, wo die Frösche gegen die Störche klagen können.

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